Lesen lernen: Welche Rolle spielen Bücher und eigenes Schreiben?

Lesen bleibt auch in der digitalen Welt eine unverzichtbare Schlüsselkompetenz – in allen Bereichen. Ohne Lesen geht nichts und auch zur Ausprägung des komplexen Denkens ist Lesen eine unverzichtbare Kulturtechnik. Doch funktioniert die Aneignung mit zunehmender Digitalisierung weiter analog? Oder braucht es besser digitale Werkzeuge? Wir haben nachgefragt. 


Analoge Bücher sind für den Prozess des Lesenlernens weiter unverzichtbar. Zu diesem Schluss kommen Lehrer und Wissenschaftler. 
„Bücher sind enorm wichtig. Erstens kann man sie anfassen und zweitens stellen sie ein klassisch lineares Medium dar. Natürlich kann man sagen, das braucht heute keiner mehr. Doch es handelt sich um eine jahrhundertealte Kulturtechnik, sie ist Teil unserer Kultur und es ist vorteilhaft, diese zu beherrschen", erklärt Anke Langner, Professorin für Erziehungswissenschaften an der TU Dresden. „Abseits davon gelingt nur mit dem Wissen des Analogen auch eine realistische Einschätzung des Digitalen."

Vorlesen von Büchern setzt erste Reize

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt Grundschullehrer Daniel Hoffmann: „Analoge Bücher spielen bei der Motivation und beim Erlernen des Lesens eine wichtige Rolle", erklärt der Lehrer aus dem Leipziger Osten. Lesen beginne ja nicht mit den Buchstaben. „Es fängt viel eher an. Es beginnt mit den Büchern und Lesestoffen aus dem Umfeld", erklärt Hoffmann, der sich gleichzeitig bei der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in der Fachgruppe Grundschulen engagiert. 
„Wenn ich mit Kindern zusammensitze und vorlese, setze ich den ersten Reiz. Das funktioniert unterschiedlich, doch es ist ein erster Baustein, die kindliche Neugier zu wecken, dass die Kinder selbst lesen wollen."

Bedeutung von Büchern nimmt mit zunehmendem Alter ab

Hoffmann räumt jedoch auch ein: „Mit einem höheren Alter der Schülerinnen und Schüler nimmt die Bedeutung von Büchern ab. Die Bildschirmlesezeit hingegen steigt." 
Der Konsum verändere sich, das sehe man auch in der Musik. Nur selten höre die junge Generation noch Tracks über zwei Minuten. Mit dem Lesen verhalte es sich ähnlich. 
„Wenn ich in der Straßenbahn sehe, wie schnell die Kids durch ihre Timeline scrollen – da bin ich raus", erklärt der Lehrer. „Ich bin mir sicher, die erfassen das auch in der kurzen Zeit, das sind komplett andere Zugänge." 

Anerkennung für dicke Bücher

GEW-Grundschulexperte Hoffmann bilanziert: „Das Buch wird nicht komplett sterben, doch es wird weniger werden. Bücher haben keinen schlechten Ruf, sie werden nur weniger gelesen." 
Falls dies geschieht, würde dies jedoch mit speziellen Kompetenzen verbunden. Schon jetzt erkenne er Demut und Bewunderung unter Schülern, wenn jemand erklärt, er habe ein dickes Buch komplett gelesen. „Liest heute einer meiner Kinder in der Klasse einen fetten Harry-Potter-Band, erntet er anerkennende Worte und wird auf alle Fälle wahrgenommen", erklärt Hoffmann.

Wie wirkt das Schreiben auf den Leselernprozess?

Doch macht es eigentlich einen Unterschied, ob wir digital mit der Tastatur oder mit der Hand schreiben? Wie wirkt sich die Motorik auf den Prozess des Lernens aus? 
Für Professorin Langner an der TU Dresden ist die Sache klar: „Das Schreiben muss durch die Hand gehen, alles andere ist nicht adäquat", erklärt sie. „Es gibt Kinder, die nur mit der Tastatur schreiben. Doch wir dürfen nicht vergessen: Beim Schreiben mit der Hand verbindet sich die linke und die rechte Gehirnhälfte. Nur so bilden sich komplexe Denkprozesse aus." 
Das sei auch bei Erwachsenen leicht erkennbar. „Wenn wir anfangen über schwierige Sachen nachzudenken, dann malen und schreiben wir uns das auf. Wir nennen das 'von der Hand in den Kopf', durch das Tun mit dem Körper verinnerlichen wir Dinge viel besser und schneller", analysiert Langner.

Menschen entscheiden sich für den einfachsten Zugang

Grundschul-Experte Hoffmann sieht das weniger kompromisslos. „Tastatur oder Hand – meine Kolleginnen würden sagen, das macht einen Riesenunterschied", erklärt er lachend. 
„Ich sehe das ein bisschen entspannter. Ich glaube, dass die Tastatur die Zukunft ist." Der Mensch entscheide sich immer für den einfachsten Zugang. „Ich befürchte, die Handschrift wird irgendwann sterben", erläutert Hoffmann. „Da müssen wir eben die Auge-Hand-Koordination anders schulen und beispielsweise mehr Tischtennis spielen. Schreibschrift ist ein antiquierter Baustein."

Innere Ruhe durch Schönschreiben

Ist es damit langfristig auch mit dem Schönschreiben vorbei? Werden Kinder also nie wieder lernen, schöne Buchstaben mit der Hand zu zeichnen? Ist das nach vielen Jahren auch nicht mehr wichtig? „Meine Kolleginnen würden sagen, Schönschreiben ist ganz wichtig", scherzt Hoffmann weiter. 
„Was mir auffällt, dass Kinder beim Schreiben zu innerer Ruhe kommen. Insofern würde ich das Schreiben mit der Hand nicht abschaffen. Das Verhältnis ändert sich jedoch." 
Vielleicht brauche es einen Generationswechsel. Bereits jetzt werde an den Unis heftig diskutiert, „ob es den ganzen Schreibschriftwahnsinn noch braucht". 
Hoffmann erklärt: „Als Notiz ist die Handschrift jedenfalls noch nicht ausgestorben. Als Klassiker nenne ich den Einkaufszettel – es gibt noch viele, die im Supermarkt manuell ihre Einkaufslisten aus der Tasche ziehen. Wigald Boning hat über den Einkaufszettel ein ganzes Buch geschrieben, sehr zu empfehlen."

Katrin Tominski, Dresden

zur Person

Katrin Tominski ist freie Journalistin und veröffentlicht vor allem in den Online- und Hörfunkredaktionen des Mitteldeutschen Rundfunks. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften, Journalistik und der Politikwissenschaften in Leipzig, volontierte sie bei der Leipziger Volkszeitung und wechselte schließlich als Redakteurin für die Dresdner Neuesten Nachrichten nach Dresden. Dort bearbeitet sie heute Themen mit Fokus auf Bildung, Migration, Wissenschaft, Medizin und Digitalisierung sowie Ostdeutschland.