Warum ist Lesekompetenz bei Grundschülern so wichtig?

Sie ist das Eingangsportal für Kinder in die Welt der Großen und Erwachsenen – die Grundschule. Sie vermittelt die grundlegenden Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen und legt somit wichtige Bausteine für Bildung und Persönlichkeitsentwicklung. Doch warum ist gerade das Lesen so wichtig? Warum ist es „alarmierend", wenn Lesekompetenzen sinken?


Die Fähigkeit zu lesen ist eine der wichtigsten Grundkompetenzen, die es für Kinder zu erlernen gilt. Wird diese Chance verpasst, kann das zu langfristigen Folgen für das eigene Leben und den Berufsalltag führen sowie die gesellschaftliche Teilhabe empfindlich einschränken. 

Das ist der Tenor vieler Expertinnen und Experten, die sich mit dem Prozess des Lesens beschäftigen. „Die Lesekompetenz ist eine Schlüsselkompetenz für gesellschaftliche Teilhabe. Sie ist entscheidend für eine erfolgreiche Bildungs- und Erwerbsbiografie", schreiben die Autoren der Schulpanel-Studie „Iglu" der TU Dortmund. Die vierte Klassenstufe sei aufgrund des Übergangs in die weiterführenden Schulen ein besonders kritischer Zeitpunkt. Wichtig für erfolgreiches Lesen sei auch die familiäre Unterstützung und das Lesen im Alltag.

Lesen gehört zu den grundlegenden Kulturtechniken

„Lesen, Schreiben und Rechnen sind unsere Kulturtechniken. Sie sind grundlegend für alles. Wenn Lesekompetenzen nicht ausgebildet sind, kann ich mir alles, was in der Schule und im Leben passiert, nicht aneignen", erklärt auch Anke Langner, Professorin für Erziehungswissenschaft an der TU Dresden. Problematisch sei, wenn die Schüler nur mechanisch lesen und nicht den Sinn entnehmen könnten. „Begreifen Kinder den Sinn nicht, kommen sie nicht ins Verstehen."

Anregung zum komplexen Denken

Erziehungswissenschaftlerin Langner sieht jedoch noch einen entscheidenden Grund, warum das Lesen so wichtig ist. „Wir wissen, dass sich über das Lesen – also über das Entschlüsseln von Symbolen – höhere psychische Funktionen entwickeln. Durch das Lesen werden wir im Denkprozess immer komplexer. Innere Formulierungen ermöglichen es uns, immer kompliziertere Prozesse zu verstehen und darauf aufbauend Sinnzusammenhänge zu analysieren", erklärt Langner. 

„Lesen ist ein Wegbereiter für Abstraktion. Das ist enorm wichtig für den psychischen Entwicklungsprozess."

Grundlage für andere Fächer

Eine ganz praktische, aber entscheidende Rolle spielt das Lesen auch in der Schule – beim Erlernen der Inhalte anderer Fächer. 
„Die Lesekompetenz ist eine Kernkompetenz, die nicht nur in einem Unterrichtsfach relevant ist, sondern für das Lernen in allen Fächern wichtig ist", erklärt Erziehungswissenschaftlerin Ramona Lorenz von der TU Dortmund und Mitautorin der Iglu-Studie. 

Am Ende der Grundschulzeit – meist am Ende der vierten Klasse – sollten Kinder Lesen soweit erlernt haben, dass sie Inhalt und Struktur von Texten sicher erfassen können. 

„An diesem Punkt können sie durch das Lesen Zugang zu Wissen in allen Domänen erhalten", erklärt Lorenz. Gelinge das Lesen nicht, könne dies weitreichende Folgen haben. "Eine unzureichende Lesekompetenz ist oft mit Problemen in der weiterführenden Schule verbunden und schränkt Kommunikation und Teilhabe in Gruppen und der Gesellschaft ein."  

Lesen ist der Schlüssel für alles

Das kann auch Langner von der TU Dresden unterschreiben. „Lesen ist der Schlüssel für fast alles. Auch um den Unterricht in anderen Fächern zu verstehen, müssen Kinder lesen können", erklärt die Erziehungswissenschaftlerin, die in Dresden das Modellprojekt einer Gemeinschaftsschule, die Universitätsschule, wissenschaftlich begleitet. „Man sollte Lesekompetenz nie unterbewerten." 

Für Langner ist Lesen aus einem weiteren Grund wichtig: „Kinder erlernen Strukturen zu erkennen. Für viele Dinge im Alltag und die eigene Strukturierung ist das enorm wichtig", erklärt sie.

Alles läuft über Schrift

Für den Leipziger Grundschullehrer Daniel Hoffmann könnte die Sache nicht klarer sein. 

„Unsere gesellschaftliche Kommunikation ist auf dem Lesen aufgebaut. Egal ob ich in einem Laden einkaufe oder im Verkehr Straßenschilder lese – alles läuft über Schrift", erklärt er. 

„Ob Emails, Textnachrichten oder stinknormale Bücher, aus denen ich Wissen raushole, ich brauche immer das Lesen." Für Hoffmann ist es ein Geschenk, Kindern das Lesen beizubringen. Wenn die Kinder aus Buchstaben plötzlich Sinn ziehen, „habe ich als Grundschullehrer meine schönsten Momente."

Eine neue Welt entdecken

Für Hoffmann ist es immer ein Wunder bei den Kindern zu verfolgen, wie sich durch Schrift ihre Sicht auf die Welt ändert. „Plötzlich entdecken die Kinder ihre Umwelt völlig neu. Sie können die Aufschrift auf Milchkartons lesen, im Supermarkt Produkte entziffern und im Zoo die Schilder. Sie erfahren, was auf ihren Pokémon-Karten steht oder sind plötzlich imstande, Harry Potter zu lesen", erklärt er. Umgekehrt bliebe für diejenigen, die Lesen nicht oder nicht richtig lernen, immer Teile dieser Welt verschlossen.

Macht künstliche Intelligenz das Lesen überflüssig?

Doch ist diese Sicht auf das Lesen nicht zu romantisch, vielleicht sogar anachronistisch? Macht nicht künstliche Intelligenz mit Programmen zum Vorlesen und zur Spracherkennung auch den Erwerb der traditionellen Kulturtechniken obsolet? Verdienen nicht Influencer und Handwerker auch ohne große Leselektüre viel Geld? 

Langner weiß, dass es viele funktionale Analphabeten gibt. „Sie sind clever und bislang gut durchgekommen, dass es nicht weiter aufgefallen ist. Doch das Ausreizen von Umwegen ist endlich. Bestimmte Wege bleiben für immer verschlossen", erklärt sie. „Auch als Handwerker müssen Sie lesen können, Korrespondenzen erledigen und Verträge unterzeichnen. Lesen ist ein Aneignungsprozess, der sich durch alle Bereiche durchzieht."

Katrin Tominski, Dresden

zur Person

Katrin Tominski ist freie Journalistin und veröffentlicht vor allem in den Online- und Hörfunkredaktionen des Mitteldeutschen Rundfunks. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften, Journalistik und der Politikwissenschaften in Leipzig, volontierte sie bei der Leipziger Volkszeitung und wechselte schließlich als Redakteurin für die Dresdner Neuesten Nachrichten nach Dresden. Dort bearbeitet sie heute Themen mit Fokus auf Bildung, Migration, Wissenschaft, Medizin und Digitalisierung sowie Ostdeutschland.