Studie: Migranten-Kinder holen bei Lesekompetenz auf

Die Fähigkeit zu lesen gilt als Schlüssel einer erfolgreichen Bildung. Nach alarmierenden Meldungen über den Verlust eines dreiviertel Schuljahres für Migranten durch die Pandemie sieht die aktuelle Integrationsstudie „Settling In 2023“ positive Tendenzen, vor allem für Kinder von Migranten.


In Deutschland und in Österreich hat sich die Lesekompetenz der Kinder von Migranten entscheidend verbessert. Das erklärte Integrationsforscher Thomas Liebig bei der Vorstellung der aktuellen Integrationsstudie „Settling In 2023“. Im Inland geborene Kinder von im Ausland geborenen Eltern haben demnach ein halbes Schuljahr bei der Lesekompetenz gewonnen. „Deutschland hat kräftig aufgeholt. Kinder von Zuwanderern sind deutlich besser als vor zehn Jahren, das ist ein entscheidender Fortschritt“, sagte der Forscher bei der Vorstellung der Studie. „Hier zeigt sich, dass sich die Investitionen in Bildung auszuzahlen scheinen.“ 

Jeder Vierte in Deutschland mit Migrationshintergrund

Der Studie zufolge hat in Deutschland jeder Vierte zumindest ein im Ausland geborenen Elternteil. Davon sind etwa 13,6 Millionen Erwachsene sowie knapp vier Millionen Kinder direkt zugewandert. Von insgesamt 6,9 Millionen Kindern ist zumindest der Vater oder die Mutter zugewandert. „Zuwanderung hat ein hohes Gewicht in Deutschland“, erklärte Integrationsforscher Liebig. Gemessen an der Bevölkerung liege Deutschland bei der Migration über dem Durchschnitt der OECD-Länder, jedoch hinter den USA, den Niederlanden, Irland und anderen. Die Schweiz ist das OECD-Land mit der höchsten Migration, gemessen an der Gesamtbevölkerung. Dort hat jeder Zweite zumindest ein im Ausland geborenen Elternteil.

Studie konzentriert sich auf Kinder von Zuwanderern

Laut Liebig habe man für die aktuelle Integrationsstudie bewusst nur die Kinder von Migranten betrachtet, die in Deutschland geboren worden sind. Nur hier sei die deutsche Bildungspolitik verantwortlich und könnten direkt Rückschlüsse gezogen werden. Neu zugewanderte Kinder seien oft von ihrer Flucht und entsprechenden Lücken in der Schulbildung geprägt. Ihre Voraussetzungen seien andere als bei Kindern, die im Inland geboren und aufgewachsen seien.

Schlechtere Ergebnisse bei neu Zugewanderten

„Für Kinder, die mit 13 Jahren zugewandert sind, kann man schlechte Pisa-Ergebnisse zumindest nicht mit der vorschulischen Bildung erklären. Das hängt eher mit der Wanderung zusammen“, sagte Liebig. „Wenn man neu zugewanderte Kinder in die Gruppe aller Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte einbezieht, ist klar, dass sie den Leistungsschnitt deutlich nach unten ziehen.“ Dies gelte insbesondere für Deutschland aufgrund der hohen Fluchtmigration in den Jahren 2015/2016.

Hohe Chancen für gute Lesekompetenz bei Schulbesuch ab 1. Klasse

Allgemeinen Einschätzungen von Bildungsexperten zufolge erlernten Kinder neue Sprachen zwar schnell. Doch sei hier das Umfeld und der Zeitpunkt des Schuleintritts in Deutschland entscheidend. Würden Schülerinnen und Schüler regulär in die erste Klasse eingeschult, bestünden noch die höchsten Chancen, eine hohe Lesekompetenz zu erwerben.

Vergleich der Pisa-Zahlen von 2009 und 2018

Ein Manko: Für die Studie verglich Integrationsforscher Liebig die alten Pisa-Zahlen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus den Jahren 2009 und 2018. Darin können die Verwerfungen durch die Covid19-Pandemie noch nicht enthalten sein. Die aktuelle Pisa-Studie wird derzeit erarbeitet, Ergebnisse sollen Ende 2023 vorliegen. Es geht dem Integrationsforscher jedoch weniger um eine genaue Bestandsaufnahme als um eine Tendenz. „Wir wollen bewusst Tendenzen beschreiben“, sagte Liebig. „Hier zeichnet sich ein gemischtes Bild. Nicht alles ist Schatten, es gibt auch positive Entwicklungen.“

Die Erwerbstätigenquoten haben sich verbessert

Doch können Migranten-Kinder überhaupt von höherer Bildung profitieren? Der Studie zufolge haben sich die Erwerbstätigenquoten für die Nachkommen der Zugewanderten in den meisten Ländern verbessert – in Deutschland knapp über drei Prozentpunkte. Trotzdem lägen ihre Beschäftigungsquote wie auch die Pisa-Ergebnisse, unabhängig vom Bildungsstand, nach wie vor unter der ihrer Altersgenossen ohne Migrationshintergrund, erklären die Forschenden. Gleichzeitig seien besonders in Deutschland immer mehr Zuwanderer in ihren Jobs überqualifiziert. „Sehr selten werden die Kompetenzen genutzt“, erklärte Liebig. „Hier gibt es ein riesiges Potenzial.“

Fortschritte in der öffentlichen Wahrnehmung nicht angekommen

Den Forschenden der Integrationsstudie zufolge sind die Fortschritte bei der Bildung in der öffentlichen Wahrnehmung nicht angekommen. Die Mehrheit der Befragten haben demnach eine „weniger positive Wahrnehmung“ auf das Bildungsniveau von Zugewanderten und auch das deren Kindern.

Ist das Bildungssystem auf Migration ausgerichtet?

Laut der Studie beträgt die Zahl der zugewanderten Kinder, die nicht in Deutschland geboren sind und bei diesem Vergleich nicht berücksichtigt wurden, knapp vier Prozent. Lehrerinnen, Gewerkschaften und Bildungsexperten fordern hier eine stärkere Ausrichtung auf Integration. Es mangele an Lehrkräften, Sozialpädagogen und der entsprechenden Ausbildung für Pädagogen. Besonders vor dem Hintergrund vieler Geflüchteter aus der Ukraine forderte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) unter anderem im Dezember 2022 Sofortprogramme zur Integration.

Integrationsstudie „Settling In 2023“

Die Integrationsstudie „Settling In 2023“ von OECD und EU-Kommission untersucht die Erfolge und Herausforderungen der Integration von Zugewanderten in den OECD- und EU-Ländern. Dabei geht es um Trends in den Bereichen Arbeitsmarkt, Bildung, allgemeine Lebensbedingungen und soziale Integration. Zur OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) gehören 38 Mitgliedsländer vor allem aus Europa, doch auch aus Australien, Costa Rica, Chile, Kolumbien, Korea, Kanada und die USA.

Katrin Tominski, Dresden

zur Person

Katrin Tominski ist freie Journalistin und veröffentlicht vor allem in den Online- und Hörfunkredaktionen des Mitteldeutschen Rundfunks. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften, Journalistik und der Politikwissenschaften in Leipzig, volontierte sie bei der Leipziger Volkszeitung und wechselte schließlich als Redakteurin für die Dresdner Neuesten Nachrichten nach Dresden. Dort bearbeitet sie heute Themen mit Fokus auf Bildung, Migration, Wissenschaft, Medizin und Digitalisierung sowie Ostdeutschland.